Proxemik, Sicherheit und Radverkehr

Gestern dachte ich noch darüber nach, dass man gefühlte Sicherheit nicht per Statistik erhöhen kann, sondern nur per Gefühl. Dann ist mir der psychologische Zusammenhang klar geworden.

Statistiken sagen, dass ein baulich getrennter Radweg gefährlicher ist, als ein Radweg auf der Fahrbahn. Das hat vor Allem mit den gefährlichen Abbiegeunfällen zu tun, die passieren, wenn ein Autofahrer einen Radfahrer leicht übersieht, wenn dieser auf einem separaten Weg fährt, aber dann die gleiche Kreuzung überfährt.

Das leuchtet ein. Dennoch wird die Statistik aus meiner Sicht falsch interpretiert bzw. führt zu einem falschen Schluss. Die Sichtbehinderung, also die fehlende Wahrnehmung ist das Problem, nicht die zu große Entfernung zwischen Autofahrer und Radfahrer. Als Lösung bringt man den Radverkehr per Radfahrstreifen (durchgezogene Linie) oder Radschutzstreifen (gestrichelte Linie) mit auf die Fahrbahn. Der Radfahrer ist im Sichtfeld, aber gleichzeitig auch näher am Autoverkehr. Nicht nur meine persönliche Wahrnehmung ist, dass sich diese Verkehrsführung unsicherer anfühlt. Geringere gefühlte Sicherheit führt zu weniger Radverkehr und dieser wiederum zu mehr Unfällen, da sich ja ein höherer Radverkehrsanteil positiv auf die Unfallstatistik auswirken würde.

Gefühlte Sicherheit – oder anders formuliert: Sicherheitsbedürfnis – ist eines der untersten Ebenen der Maslowsches Bedürnishierarchie, die oft als Bedürfnispyramide dargestellt wird. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist ein bei Menschen basales Bedürfnis kurz nach den physiologischen Bedürfnissen wie etwa, Ernährung, Schlaf, Sexualverhalten, etc. Vermutlich könnte man diese Hirnfunktion am ehesten in unserem ältesten Hirnareal, dem Reptiliengehirn suchen. Das abstrakte Verständnis von Statistiken ist eher nicht Teil dieser Hirnregion.

Was hat das mit Proxemik zu tun?
Proxemik beschreibt Abstands- oder Raumverhalten. Dies ist bei Tieren aber auch beim Menschen sichtbar. Distanzzonen beschreiben etwa, wie nahe wir die eigene Mutter oder einen völlig Fremden an uns heranlassen möchten. Edward T. Hall beschreibt in „The Hidden Dimension“ beispielsweise das Verhalten von Raubtieren, die man aus einer gewissen Entfernung beobachten kann, ohne Agressionen auszulösen. Unterschreitet man jedoch eine bestimmte Distanz, schalten diese Raubtiere auf Angriff um, weil sie ihre Sicherheit oder die Sicherheit ihrer Familie oder ihres Rudels in Gefahr sehen. Neben der Proxemik (Entfernung) spielt hier aber auch Taxis (Richtung) eine Rolle. Die Sinnesorgane vieler Säugetiere und auch von Menschen sind vom Kopf aus nach vorne ausgerichtet. Wenn sich ein Feind von hinten nähert, merken wir dies erst später, als würde er es von vorne tun. Bemerken wir den „Eindringling“ dann doch, erschrecken wir und sind sofort auf Angriff eingestellt. Auch bei falschem Alarm stellt sich dieser harmlose Angriff als Stress dar. Die Intensität des Erschreckens und des Stresses haben dabei natürlich auch mit der Bedrohlichkeit des Gegners zu tun. Ein plötzlich auftauchender Leopard erzeugt mehr Stress, als ein überraschend vorbeihoppelnder Hase.

Genug Hasen und Leoparden – aber die fahren ja auch kein Rad!
Der in Aachen (aber auch anderswo) gängige, aktuelle Weg heißt Radschutzstreifen. Das ist ein ca. 1,5m breiter Streifen auf der rechten Seite einer Fahrbahn. Rechts davon ist entweder der baulich getrennte Gehweg oder ein Parkstreifen mit Autos. Links davon ist die Autofahrspur (meist 50 km/h). Als Radfahrer überholt man also entweder freie Fläche oder meist stehende Objekte auf der rechten Seite und wird links von Autos überholt. Während der rechte Fahrbahnrand aber im Sichtfeld liegt, kommen die überholenden Autos von hinten, also da, wo der Mensch keine Augen hat. Gleichzeitig werden die menschlichen Distanzzonen arg unterschritten, denn Autofahrer überholen gerne links der gestrichtelten Linie des Radschutzstreifens, aber selten in der eigentlich empfohlenen Entfernung von 1,5m.

Was sagt uns also Reptilienhirn in dieser Situation folgerichtig, wenn laufend große, gefährliche Opponenten von hinten körperlich sehr nahe auftauchen? GEFAHR! ALARM! STRESS! Vor diesem Gefühl kann man sich schlecht wehren, auch wenn das Großhirn noch sie viele vermeindlich richtigere Statistiken kennt.

Wir haben nicht die Zeit, unser Reptilienhirn davon zu entwöhnen. Wir müssen andere Strategien finden, damit umzugehen.

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